Romane
„Tim und das Geheimnis der siebten Kreuzkugel“ – Fantasy-Roman
Buchveröffentlichung, Fantasy-Roman, Jugendbuch in der Tradition der Literatur von Michael Ende. Die Geschichte um den 13-jährigen Tim Pickford, der dazu auserkoren ist, beide Welten vor dem Untergang zu retten, vereint die uralten Kulturen Ägyptens und Tibets mit der des Abendlandes. "Zeit" und "Energie" spielen entscheidende Rollen.
Geest-Verlag Vechta 2022, Verlagsleitung: Alfred Büngen, Lektorat: Inge Witzlau, Titelbild: Gertrud Tegeler, ISBN 978-3-86685-874-9
Zum Buch:
Der 13-jährige Tim Pickford erlebt ein ebenso fantastisches wie gefährliches Abenteuer in einer anderen Welt, die dennoch mit seiner eigenen verknüpft ist. Der schüchterne Junge ist dazu auserkoren, beide Welten vor der endgültigen Versklavung durch den mächtigen Herrscher Leo Triekorner zu retten. Um dies in die Tat umzusetzen, muss Tim die letzte der sieben Kreuzkugeln an einen Parallel-Ort bringen, der außerhalb unseres
Sonnensystems liegt. Der Junge riskiert sein Leben, das vor allem von Isamara, Myrok und Galway – Mitgliedern des „Ordens vom Magischen Knoten“ – beschützt wird. Doch kann die Mission am Ende wirklich gelingen?
Der Hintergrund dieses spannenden Jugendbuches – geschrieben in der Tradition von Michael Ende – vereint die uralten Kulturen Ägyptens und Tibets mit der des Abendlandes. Die Phänomene „Zeit“ und „Energie“ spielen dabei die entscheidenden Rollen. Im Vordergrund aber steht das Vertrauen in die eigenen, ungeahnten Fähigkeiten und das Folgen der inneren Stimme.
Der erste Fantasy-Roman von Udo Brückmann trägt die Widmung „Für alle Freunde“. Ein Lesespaß für jung und alt!
Leseprobe,
aus dem ersten Kapitel „Die Erscheinung im Fahrstuhl“:
Irgendwo in einer großen Stadt stand ein vierstöckiges Mietshaus. Es war schon über hundert Jahre alt, vielleicht auch sehr viel älter. Die eleganten Verzierungen über den Fenstern bröckelten vor sich hin, und der verblasste, grünliche Putz schien jeden Augenblick von den schiefen Wänden zu fallen. Die wenigen Bäume in der Nähe wirkten etwas trostlos. Sie trugen keine Blätter, denn es war noch Winter. Graue Wolken hingen wie riesige Abdeckplanen über den Straßen.
Ganz oben in dem alten Mietshaus, im vierten Stock, wohnte der dreizehnjährige Tim Pickford mit seinem Vater. Die gemütliche Dachwohnung war der perfekte Ort, um sich von lästigen Lehrern und Mitschülern zu erholen.
Tim saß allein in der kleinen, warmen Küche und las ein Buch. Sein Kopf glühte wie eine heiße Herdplatte, und seine Augen folgten gebannt den spannenden Zeilen. In seinen Händen hielt er einen märchenhaften Roman, der seine Gedanken in eine andere Welt eintauchen ließ – mit gefährlichen Drachen, Magiern, Feen und Elfen.
Tim war so sehr in die fesselnde Handlung vertieft, dass er das Klappern und Drehen des Schlüssels im Türschloss wie aus der Ferne wahrnahm. Verhüllt von einem undurchdringlichen Nebel.
»Der Hüter der Herrschenden Winde breitete endlich seine riesigen, rötlich glänzenden Flügel aus, und ein feiner goldener Schimmer lag in der Luft. Die Hexen und Zauberer verneigten sich. Ehrfurchtsvoll wichen sie zurück. Hatten sie ihre Aufgabe so erfüllt, wie es von ihnen erwartet wurde? Der Hüter der Herrschenden Winde lächelte mild. Einige der Hexen und Zauberer blickten demütig auf den Boden. Plötzlich aber brach die dunkle Wolkendecke über ihnen auf! Dann hörten sie ein ohrenbetäubendes Kreischen. Ein mächtiger Feuerball verglühte und das aufflammende Ungeheuer schoss kampfbereit aus dem Himmel...«
»Timmy? Wo steckst du denn?«, rief Tims Vater. »Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du die Wohnungstür immer zwei Mal abschließen sollst. Und das Altpapier liegt immer noch im Flur! Du weißt doch, wie viel Stress ich im Büro habe, Stress ohne Ende. Du könntest wenigstens die paar Aufgaben erledigen, um die ich dich gebeten habe. Mehr verlange ich nicht. Oder ist das etwa zu viel? – Timmy! Hörst du mir zu?«
Tim seufzte laut. »Jaaa, Papa«, antwortete er, immer noch versunken in einer fantasiereichen Welt. »Nur noch ein paar Seiten, das Altpapier trage ich gleich nach unten.«
Der Vater betrat die Küche und spitzte den Mund. »Und wie sieht es mit den Schularbeiten aus?«, fragte er vorwurfsvoll.
»Sind in Arbeit«, sagte Tim und senkte kurz den Blick. »Fast alles fertig. Biologie und Erdkunde. Und die Blumen auf der Fensterbank hab ich schon gegossen.«
Richard Pickford fasste sich an sein ausgeprägtes Kinn und presste die Lippen aufeinander. Dann zog er sein Jackett aus, legte es sorgfältig über eine Küchenstuhllehne und löste seine Krawatte. »Zeig mir die Hausaufgaben nach dem Abendessen«, sagte er streng. »Und trödel nicht, sonst wird die Suppe kalt. Ist Post gekommen?«
»Nur blöde Werbung von irgendwelchen Versicherungen«, antwortete Tim schroff.
»Die auch für dich später einmal wichtig sein werden«, bekam er als Kommentar von seinem Vater zurück.
Tim verdrehte die Augen und legte das Buch mit einem selbst gebastelten Lesezeichen – die Abbildung eines ägyptischen Skarabäus-Käfers – auf den Küchenschrank. Im Flur zog er seine Turnschuhe an. Dabei stolperte er so ungeschickt über einen der Schnürsenkel, dass er auf dem langen Teppich ausrutschte und dumpf aufschlug.
»Kannst du denn nie richtig aufpassen?«, rief Vater Pickford schneidend. »Das kommt nur von diesen sinnlosen Büchern!« Schnell griff Tim das Altpapier und verließ damit die Wohnung. Im kühlen, knarrenden Treppenhaus drückte er auf die Taste mit der 4. Ungeduldig wartete er auf den Fahrstuhl, der scheppernd und röchelnd im obersten Stock ankam. Die Kabine öffnete sich quietschend. Tim trat hinein und drückte gedankenverloren auf die E-Taste.
Dann geschah es. Aus dem Stapel Altpapier wurden plötzlich geheimnisvolle, uralte Dokumente, halb verblichene Urkunden mit fremdartigen Schriftzeichen aus längst vergangenen Jahrtausenden. Waren es vielleicht ägyptische Hieroglyphen? Gebannt starrte Tim auf die rätselhaften Dokumente und hörte aus der Ferne ein Flüstern. Sanft und wohlklingend.
»Schon bald wird sich dein Schicksal erfüllen, deine Bestimmung. Denn nur du allein bestimmst dein Schicksal, wenn du daran glaubst.«
Dann sah er eine helle, fast durchsichtige Gestalt in einem langen Gewand aus goldenem Licht vor sich. Sie war von einem strahlenden Regenbogen umgeben. Eine Gestalt mit leuchtenden, gütigen Augen voller Zuneigung, Wärme und Vertrauen.
Tim erschrak und spürte einen Ruck. Die Fahrstuhltür öffnete sich wie immer mit dem nervigen Quietschen. Als er dann aus der Kabine stieg, lief er Irma Habengetter, der neugierigen Hauswartsfrau, geradewegs in die Arme. Fast nichts entging ihr, was im Haus passierte; und sie erzählte es sofort weiter: Jede Nachrichtenagentur würde gegen sie den Kürzeren ziehen.
»Ach, der kleine Pickford mit dem Altpapier, was? Ts, ts, ts!«, sagte sie schnippisch und putzte sich die lange, gebogene Nase. Tim nannte die Frau heimlich „das Treppenmonster“. Frau Habengetter nestelte an ihren drei großen Lockenwickeln, mit denen sie ihre zementgrauen Haare an den Seiten und auf der Mitte des Kopfes gebändigt hatte. »Und sag deinem Vater, dass die Heizkosten gestiegen sind!«
»Ja, ist gut, mach ich«, antwortete Tim und lächelte matt. Dann ging er hinaus in den Innenhof zum Container. Er warf das Altpapier hinein und sah mit trauriger Miene in den düsteren Himmel. Ein paar Schneeflocken tanzten in der kalten Luft.
»Was war das denn gerade im Fahrstuhl?«, sagte Tim leise zu sich selbst und schüttelte den Kopf, um die seltsamen Gedanken zu vertreiben.
»Wenn es ums Geld geht, hat man nichts als Ärger in diesem Haus«, schimpfte Frau Habengetter, als Tim sich nichts ahnend umdrehte.
Sie war ihm in den Hof gefolgt, stand dicht hinter ihm und nestelte übertrieben an einem der Lockenwickler. Tim sah die Hauswartsfrau vor sich, wie sie dabei mit einer langen, schwarzen Zunge gierig nach kreischenden Schneeflocken schnappte.
Frau Habengetter runzelte ihre ohnehin faltige Stirn und sah ihn fragend an. »Ts, ts, ts!«
Ohne sie weiter zu beachten, ging Tim an ihr vorbei ins Haus und fuhr mit dem Fahrstuhl zurück in den vierten Stock. Leise stieß er die angelehnte Wohnungstür auf und schloss sie hinter sich zu. Im Flur hörte er das Radio aus der Küche.
»Die Meldungen: Die Preise für Strom, Heizöl und Erdgas ziehen weiter kräftig an. Krankenkassen befürchten Kostenexplosion.«
Die Turnschuhe waren nass. Tim zog sie aus und ging in sein Zimmer. Er kramte in seiner Schultasche und setzte sich auf den Drehstuhl an seinen Schreibtisch, auf dem die kleine Figur einer ägyptischen Sphinx stand. Der Briefbeschwerer war ein Geschenk von Tante Elvira. Alles, was Tim über die Geschichte der Pharaonen in die Finger bekommen konnte, sammelte er leidenschaftlich. Die Regale in seinem Zimmer waren – neben unzähligen Romanen – voll davon. Deshalb verzichtete er sogar auf ein Smartphone, wofür seine Mitschüler keinerlei Verständnis zeigten. Aber nicht nur wegen des fehlenden Handys war Tim in der Schule ein Außenseiter. […]
Dem Jungen fielen langsam die Augen zu. Er legte das Buch mit dem Lesezeichen zur Seite und machte die Nachttischlampe aus. Dann kuschelte er sich unter seine Bettdecke und schlief rasch ein. Mit dem Gefühl, keinen festen Körper mehr zu haben, flog er durch das unendliche Universum, vorbei an funkelnden Sternen und wunderschönen, leuchtenden Planeten.
Wie aus dem Nichts tauchte dann vor ihm eine Kinoleinwand auf. Erwartungsvoll starrte er auf die weiße Fläche. Nur für einen kurzen Augenblick huschte ein Schatten darüber. Tim glaubte, dass eine große Gestalt direkt hinter ihm stand, hinter ihm atmete! Er bekam eine Gänsehaut und zitterte. Sollte er sich umdrehen? Vorsichtig wagte er einen Blick über seine Schulter. Am Hals wurde er von einem wehenden Umhang gestreift. Die schemenhafte Gestalt flüchtete und lachte laut und zynisch mit dunkler Stimme.
Tim wachte auf und machte die Nachttischlampe an. Etwas benommen blickte er um sich. In seinem Zimmer war alles wie sonst. Er holte tief Luft und lauschte. Alles war still. Lange noch wälzte er sich in seinem Bett hin und her. Immer wieder kam ihm der unheimliche, schwarze Schatten in den Sinn. Die halbe Nacht musste er daran denken. Doch irgendwann schlief Tim wieder ein.
aus dem zweiten Kapitel „Das rätselhafte Paket“:
[…] Tim fühlte sich unbehaglich. Doch dann zog er einfach an der verknoteten Kordel. Aus dem dunkelroten Stoff enthüllte sich vor ihm eine geschnitzte Kiste aus rotbraunem Holz, etwa doppelt so groß wie ein Toaster. Verschlungene Ornamente und geheimnisvolle Zeichen, sitzende Buddha-Figuren, die sich an den Händen hielten, abwechselnd in Blau und Gold, umschlossen die gesamte Kiste. Für einen Moment vergaß Tim vor lauter Staunen den Mund zu schließen. So etwas Schönes hatte er noch nie gesehen! Es war wirklich nicht zu glauben!
»Nur hochheben kann man das komische Ding nicht. Wieso ist es bei der Größe nur so wahnsinnig schwer?«, dachte Tim angestrengt.
Unter der Kiste guckte etwas Flaches hervor, und vorsichtig zog er es heraus, Zentimeter für Zentimeter. Es war ein Brief. Tim drehte ihn in der Hand hin und her.
»Für Tim Pickford« las er auf dem goldglänzenden Umschlag, dessen Rückseite ein dunkelrotes Siegel zierte. »Was soll das denn jetzt?«, dachte Tim und runzelte die Stirn fast so übertrieben wie Frau Habengetter.
Auf der Vorderseite war das schimmernde Papier mit Blumenblüten durchwoben. Tim glitt erstaunt mit dem Finger darüber. Das Papier fühlte sich vollkommen glatt an. Es gab nicht die kleinste Unebenheit. Die blauen Blütenblätter waren goldgelb umrandet. Tim betrachtete das Siegel genauer. Auf der dunkelroten Oberfläche schien sich ein winziger Wirbel zu bewegen. Wie eine Spirale. Tim brach das Siegel, und der Wirbel hörte auf. Aufgeregt nahm er das Schreiben aus dem goldenen Umschlag und faltete es leicht zittrig auseinander.
»Lieber Tim! Wir freuen uns, Dich sehr herzlich begrüßen zu können. Unsere Worte mögen Dir ungewöhnlich vorkommen, doch handelt es sich hier nicht um einen Scherz! Du allein hast unser ganzes Vertrauen! Und nur Du allein bist befähigt, beiden Welten zu helfen, uns zu retten. Überlege gut, wem Du von diesem Brief und dem Inhalt dieses Pakets erzählen kannst. Deine innere Stimme wird Dir den Weg weisen. Schon seit Deiner Geburt bist Du mit uns verbunden, ohne dass Du es gewusst hast. Jetzt weißt Du es. Glaube an Dich und verliere nie den Mut! Wir werden Dich ab jetzt begleiten und geben uns schon sehr bald zu erkennen. Die Zeit drängt, denn die Zeit braucht einen neuen Anfang. Habe Vertrauen und sei uns willkommen! P.S.: Benutze Deinen linken Zeigefinger zusammen mit Deinem rechten Auge. Nur du allein bist der Schlüssel! P.P.S.: Dein Vater und Deine Mutter kennen uns nicht.« [...]
Tim hörte sein Herz bis in den Hals hinauf schlagen, ja, er war kurz davor, sein Herz zu verschlucken! Das leuchtende Feld verschwand und die zweiundzwanzig Buddhas fassten sich wieder an den Händen. Der jetzt sichtbare Deckel der rotbraunen Kiste schob sich ein wenig nach oben. Tims Hand zitterte etwas, als er sie nach dem Holzkasten ausstreckte. Vorsichtig nahm er den Deckel und klappte ihn langsam hoch. Schimmerndes Licht quoll heraus und hatte Tims Zimmer bald vollständig eingenommen. Ein einziges funkelndes Meer aus glitzerndem Goldstaub! Ganz allmählich nahm die Intensität des Lichtes wieder ab. Majestätisch eingebettet in blauen Samt lag eine leuchtende goldene Kugel, die mit einem glatten, farbenprächtigen Kreuz gekrönt war, als bestünde es aus miteinander verschmolzenen Edelsteinen.
Aus dem Geschichtsunterricht wusste Tim, dass es sich um einen Reichsapfel handeln musste: Eine goldene Kugel mit einem Kreuz darauf als Symbol für die Macht und die Würde eines Königshauses. Es war also etwas sehr Wertvolles. Aber wieso bekam Tim einen Reichsapfel nach Hause geschickt? Noch einmal nahm er den Brief. Was sollte er tun? Wem konnte er sich anvertrauen? – Natürlich! Tante Elvira! Er musste sie heute unbedingt noch einmal sprechen, am besten sofort. Immer wenn es früher zwischen seinen Eltern Streit gegeben hatte, flüchtete er entweder in seine Fantasiewelt oder einfach in den dritten Stock. Dort wurde er stets warmherzig und unkompliziert aufgenommen, dort wurde er getröstet und mit guten Ratschlägen versorgt. […]
aus dem dritten Kapitel „Das dritte Auge“:
[…] Doch was war das? Gab es da nicht eben ganz kurz einen hellen Lichtstrahl? Tim kratzte sich verwundert an der Stirn und schaute sich in der Bibliothek um. Und wieder sah er große, leuchtende Buchstaben vor sich und wieder waren es Worte aus dem mysteriösen Brief, die er zu hören glaubte.
»Wir werden Dich ab jetzt begleiten und geben uns schon sehr bald zu erkennen.«
Wie in Trance stieg Tim auf Tante Elviras Schreibtischstuhl und dann weiter auf ihren Schreibtisch. Er reckte sich zu voller Größe empor, um die große Buddha-Statue auf dem obersten Regal mit einer Hand zu erreichen.
»Die Zeit drängt, denn die Zeit braucht einen neuen Anfang. Die Zeit braucht einen neuen Anfang. Einen neuen Anfang. Einen neuen Anfang...«
Tim drückte das Dritte Auge in die Buddha-Statue hinein, und die Holzbüsten auf dem obersten Regal begannen aus den Augenhöhlen heraus hell und fluoreszierend zu leuchten! Sie richteten die Köpfe zur Mitte hin auf die lächelnde Buddha-Figur, die nun ebenfalls erstrahlte und eine grüßende Haltung annahm. Mit einer Melodie aus vier Tönen, welche an den Öffnungsmechanismus der Kiste erinnerte, fuhren die Bücherregale in der Mitte wie von Geisterhand auseinander und gaben eine Tür frei! Es war die Fahrstuhltür, die sich nun direkt in der Kinkerlitz-Bibliothek quietschend öffnete! Tims Wahrnehmung war völlig durcheinander geraten. Auf rätselhafte Weise befand er sich bereits in der Fahrstuhlkabine, ohne dass er sie überhaupt betreten hatte. Oder doch? Und die schwere Holzkiste stand direkt neben ihm! Sie war aber wieder geschlossen. Was ging hier vor sich? Vielleicht war alles ja nur ein Traum? Tim schüttelte sich. Seine Ohren waren taub. Dann spürte er ein unglaubliches Vibrieren, das überhaupt nicht wieder aufhören wollte. Es war, als sei in seinem Körper ein gewaltiger Vulkan ausgebrochen, der glühende Lawa in starken Schüben durch sämtliche Adern strömen ließ.
aus dem neunten Kapitel „Das Regenbogenlicht":
[…] Isamara, Myrok, Galway, Kindrin und Tim bahnten sich einen Weg durch die schwarz vermummten, regungslosen Soldaten. Einige von Triekorners Männern setzten sie um wie Schaufensterpuppen, damit sie an ihnen vorbeikamen.
»So stelle ich mir lebende Tote vor«, dachte Tim und gruselte sich. Für einen Moment glaubte er, dass einer der Soldaten ihm zuzwinkerte.
Die Kamele waren wieder da, Kindrin redete liebevoll auf sie ein. Myrok und Galway hoben die Umhänge und Turbane auf und stopften sie zurück in die Satteltaschen. Dann setzte die kleine Karawane ihren Weg fort, in Richtung des Kandura-Gebirges. Je weiter die Freunde das Gebiet mit dem Regenbogendach hinter sich ließen, desto schwächer wurde das Lichtdach. Der grelle Vollmond kam wieder hinter den Wolken hervor und das leuchtende Regenbogendach löste sich mehr und mehr auf. Bald war es ganz verschwunden.
Tim blickte über seine Schulter. »Seht nur!«, rief er den anderen zu, »die Soldaten bewegen sich wieder!«
Sie waren aus ihrer Starre erwacht wie unheilbringende Geschöpfe, denen unerwartet wieder Leben eingehaucht worden war.
»Dort hinten! Ihnen nach!«, schrie einer der Männer und rannte los.
Die Kamele schnaubten. Tim blickte sich noch einmal um. Zusammen mit seinen Freunden war er den Soldaten schon weit davongeritten. Doch er hatte eine seltsame Ahnung. Er hielt Ausschau nach irgend etwas, wohinter er sich verstecken konnte, aber um ihn herum war nichts als Weite und Wüste. Isamaras Gesichtsausdruck wirkte verstört. Sie schwieg.
»Schneller! Treibt die Kamele an!«, rief Kindrin.
Dann hallte ein Schuss durch die Nacht. Die Hohepriesterin stieß einen spitzen Schrei aus. Tim fiel aus dem Sattel zu Boden und stürzte kopfüber in den kalten Wüstensand.
aus dem zwanzigsten Kapitel „Achet-O-Nuvis“:
[...] Nach und nach wurde der große Hügel der orange-glänzenden Mauer von einer riesigen Menschenkette umschlossen. Die Brüder und Schwestern des Ordens vom Magischen Knoten legten ihre länglichen Köpfe in den Nacken.
»Es wird nun Zeit für uns«, sagte Myrok. »Siebenhundert Ordensmitglieder haben sich bereits auf ihren Plätzen eingefunden und bilden symbolisch einen Kreis.«
Tim strich über seinen weißen Overall. »Und was hat das zu bedeuten?«
Als er dieses sagte, kamen einige Dutzend Heiler in hellgrünen und Seher in hellvioletten Overalls an ihm vorbei, und verneigten sich kurz. Sie blickten auf die hohe Schutzmauer und formierten sich direkt davor zu einem großen Kreuz. Damit ergänzten sie den Kreis, den die anderen Ordensmitglieder bereits gebildet hatten.
»Von oben betrachtet ergibt sich das Bild einer menschlichen Kreuzkugel«, sagte Myrok. »Verstehst du?«
Tim machte nur große Augen.
»Der Orden hat sich lange und sorgfältig auf diesen Tag vorbereitet«, so der Seher weiter. »Die beiden Sonnen von BENU werden mit ihren goldenen Strahlen symbolisch die Schirmherrschaft übernehmen.«
Die Längsachse des Kreuzes führte bis zum ovalen Hauptportal der mit Fabelwesen verzierten Stadtmauer von Achet-O-Nuvis. Dorthin wurde Tim von seinen Freunden begleitet. Solaron und Isamara waren bereits da. Die Hohepriesterin trug nun – wie Solaron – eine hohe blaue Kopfbedeckung, unter der sie ihren kahlen, länglichen Hinterkopf verbarg. Auf ihrer Stirn funkelte wieder ein kleiner Edelstein.
»Sie sieht aus wie Nofretete!«, dachte Tim und hatte dabei die berühmte Büste der ägyptischen Königin vor Augen.
Myrok, Galway und Kindrin verhielten sich ruhig und schwiegen.
»Isamara und ich begleiten die Große Zeremonie gemeinsam«, sagte Solaron zu Tim. »Alle siebenhundertsiebzig Ordensmitglieder werden sich nun auf ihre geistige Energie konzentrieren.«
Einzig Tim wusste noch nicht, worauf diese Konzentration denn überhaupt gerichtet war.
»Es geht darum«, sagte Isamara, als ob sie seine Gedanken las, »den größten Materie-Fluch aufzuheben, die der Orden vom Magischen Knoten jemals geschaffen hat. Entspanne dich einfach und sei ein Teil von allem. Du wirst es gleich selbst erleben, was oben auf dem Hügel geschieht!«
Die siebenhundertsiebzig Ordensmitglieder fassten sich nun an den Händen und schlossen gemeinsam die Augen.
Alle Beteiligten summten gemeinsam tiefe, brummende Töne in einer bestimmten Abfolge. Die Brüder und Schwestern des Ordens versanken in eine tiefe Meditation. Die wohligen, brummenden Töne gingen am Ende in einen lange anhaltenden Dauerton über.
Als der Gesang nach vielen Minuten verstummte und selbst Tim fast einen Trancezustand
erreicht hatte, öffnete er, vollkommen in sich ruhend, seine Augen. [...]
„Tim und das Geheimnis der siebten Kreuzkugel“ von Udo Brückmann, Geest-Verlag Vechta 2022, 264 Seiten, ISBN 978-3-86685-874-9, Verkaufspreis 12, 80 Euro
Porträt und Buchvorstellung auf OM online: https://www.om-online.de/kultur/bakumer-erfullt-sich-mit-jugendbuch-kindheitstraum-114358
Ebenso in den "VEC News", Seite 6: https://www.vecnews.de/10vecnews110322epaper.pdf
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https://www.thalia.de/shop/home/artikeldetails/A1063225355
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„Mords-Hochschule – Bildung für alle“, Kriminalroman
Buchveröffentlichung, Kommissar Kettwichs zweiter Fall – eine satirische Betrachtung auf die deutsche Pädagogik vor einem gesellschaftspolitischen Hintergrund, Geest-Verlag Vechta 2017, Verlagsleitung: Alfred Büngen,
Lektorat: Inge Witzlau, ISBN 978-3-86685-650-9
Zum Buch:
Kommissar Kettwich hat es in seinem zweiten Fall mit einem raffinierten Mörder zu
tun, der in der Volkshochschule Kalvenbrück sein psychopathisches Unwesen treibt. Die norddeutsche Kleinstadt erlebt ihren pädagogischen Super-GAU!
Die Leiterin der renommierten Bildungsstätte wird im hauseigenen Kopierraum tot aufgefunden. Mitarbeiter aus der Verwaltung und aus den Reihen der Dozentinnen und Dozenten belasten sich bald
gegenseitig. Wer verdreht und wer vermittelt die Wahrheit? Wer beansprucht den Chefsessel und wer hütet hinter der eigenen Fassade tief verborgene Geheimnisse?
Und wieso finden sich am Tatort zwei Zitronen, ein Apfel und eine Banane, die in ihrer Anordnung ein lachendes Gesicht ergeben?
Während des Herbstfestes der VHS zu Ehren der Verstorbenen spitzt sich die Lage dramatisch zu ...
Ist es der Autor, der diese Geschichte nur erfindet – oder ist es der Kriminalkommissar selbst, der sie schreibt? Sind Fiktion und Wirklichkeit noch zu unterscheiden?
Erwarten Sie mit Spannung und Nervenkitzel einen satirischen Anschlag auf das geplagte System der deutschen Pädagogik und deren Vertretern vor einem gesellschaftspolitischen Hintergrund. Auf
diese Weise wird ein klassischer Krimi zu einem echten Bildungsroman!
Leseprobe,
aus dem ersten Kapitel:
Es war früh am Morgen. Der Generalschlüssel ließ sich zwar wie gewohnt in das komplizierte Sicherheitsschloss stecken, aber nicht mehr herumdrehen. Das rote Lämpchen auf dem Schlüssel, das eigentlich aufleuchten sollte, reagierte einfach nicht.
»Dieses blöde Ding!«, fluchte Irmgard Hansen leise vor sich hin, »bestimmt muss wieder die Batterie ausgetauscht werden. Alles viel zu modern!«
Erst jetzt bemerkte die knapp einen Meter sechzig große Hausmeisterin, dass die Tür gar nicht abgeschlossen war, als sie mit dem Knie dagegen stieß.
Ebenso war die komplette Außenbeleuchtung an diesem Mittwoch nicht eingeschaltet. Frau Hansen wurde immer wütender. »Und ich kann es dann wieder ausbaden!«, dachte sie mit säuerlicher Miene und schubste die schwere Eingangstür mit einem kräftigen Ruck weit auf. Frau Hansen schnaubte wie ein Stier und betätigte dann die zentralen Lichtschalter für den gesamten Eingangsbereich: Das geflieste Foyer der Volkshochschule Kalvenbrück erstrahlte nun in seiner ganzen Pracht.
Irmgard Hansen, die schon seit sieben Jahren als Hausmeisterin agierte, war wie jeden Morgen um 6.30 Uhr die erste Person vor Ort. Sie betastete den ordnungsgemäßen Sitz ihrer grauen Hochsteckfrisur und stampfte auf ihren kurzen, dicken Beinen – verpackt in Jeans – quer durch die vertraute Halle, als sie ein nicht minder vertrautes Geräusch wie selbstverständlich wahrnahm. Aber um diese Zeit? Sie blieb stehen und stutzte. Das wiederkehrende Maschinen-Geräusch in der monoton aufeinanderfolgenden Taktung kam aus einem der kleineren Räume hinter der Verwaltung, und zwar aus dem Kopierraum.
»Da wird doch wohl keiner seiner privaten Kram...«, sagte Frau Hansen zu sich selbst und war nun kurz davor, gänzlich die Beherrschung zu verlieren! Das „rote Tuch“, das sie in Gedanken vor sich sah, würde gegen ihren legendären Gerechtigkeitssinn nicht die Spur einer Chance haben.
Mit anschwellendem Hals lief sie den langen Flur hinunter und steuerte geradewegs mit lauten Schritten auf den kleinen Raum zu, dessen Tür einen Spalt weit offenstand. Das Licht brannte, aber das gleichbleibende Maschinen-Geräusch erstarb abrupt. Offenbar in der Erwartung, im nächsten Moment entlarvt zu werden.
»Ich werde Sie auf jeden Fall melden«, rief Irmgard Hansen dem Eindringling mit triumphierender Stimme entgegen und kickte entschlossen gegen die Tür, die jetzt fast aus den Angeln flog.
Die Hausmeisterin konnte erst auf den zweiten Blick realisieren, was sie da vor sich sah. Sie hielt die Luft an und wusste zuerst nicht, wie sie die Situation überhaupt einordnen sollte. Es war eine groteske Szene wie aus einem schlechten Traum: Die beliebte Leiterin der Volkshochschule, Adelheid Ritter, lag mit dem Kopf unter dem Deckel des Kopiergerätes, während ihr gertenschlanker Körper zwischen einer Zimmerecke und der wuchtigen Maschine derart eingeklemmt war, so dass sie mit dem Gesicht nicht von der Scanner-Platte rutschen konnte. Ihre rot gefärbten Haare quollen in langen Locken unter dem Deckel hervor, während hunderte von Schwarzweiß-Kopien ihres entstellten Gesichtes, die das Gerät fortwährend ausgespuckt hatte, überall verstreut auf dem Fußboden lagen. Dazu gehörten seltsamerweise auch ein Apfel, zwei Zitronen und eine Banane. Die einzelnen Früchte waren so angeordnet, dass sie zusammen ebenfalls ein Gesicht abbildeten: Die beiden Zitronen stellten die Augen dar, der Apfel symbolisierte die Nase und die Banane – mit der Krümmung nach oben – den Mund! Frau Hansen achtete zunächst kaum auf das Obst, obgleich es doch in seiner abstrakten Anordnung recht ungewöhnlich war und als Pendant zu Frau Ritters unschönem Antlitz die Boshaftigkeit der Tat unterstrich.
Der Schreck, welcher der Hausmeisterin in die kurzen Glieder gefahren war, löste sich unmittelbar wieder auf. Die Augäpfel von Frau Hansen suchten angesichts des schlaffen, verkeilten Körpers in dem kleinen Zimmer jetzt nach einer zweiten Person, welche sich vielleicht – als einzig denkbare Möglichkeit – hinter dem Regal mit dem Schneidegerät und Kartons mit Krimskrams versteckt hielt. Dies aber war nicht der Fall.
Die Hausmeisterin griff nun vorsichtig nach einem Arm beziehungsweise Handgelenk von Adelheid Ritter, um deren Puls zu erfühlen, was aufgrund des eigenen Herzrasens gar nicht so einfach war. Es brauchte mehrere Anläufe. Endergebnis: Fehlanzeige. Das Alarmieren eines Rettungswagens hatte sich wohl erledigt. Die Leiterin der Bildungseinrichtung war mucksmäuschentot! Und nach Selbstmord sah es bestimmt nicht aus, im Gegenteil.
So etwas Grauenhaftes hatte es in der Volkshochschule Kalvenbrück noch nie gegeben! Irmgard Hansen erschauderte. Mehr noch: Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sich der mutmaßliche Täter bis zu diesem Zeitpunkt in dem zweistöckigen Gebäude würde aufhalten können. Schließlich war der Kopierer noch in voller Aktion gewesen, als sie vorhin das Foyer durch den Haupteingang betreten hatte. Und irgendjemand musste das Gerät ja programmiert und eingeschaltet haben.
»Ich glaube, ich sollte hier so schnell wie möglich wieder raus«, dachte die Hausmeisterin, die sich erst jetzt in akuter Gefahr wähnte. Ihr kam die Dusch-Szene aus Alfred Hitchcocks „Psycho“ in den Sinn, obgleich es hier weit und breit keine Duschen gab. Dafür aber scharfe Messer in der hauseigenen Seminar-Küche und einen irren Mörder, der frei herumlief oder sich gar in unmittelbarer Nähe irgendwo verbarg.
Frau Hansens Hörorgane waren wie zwei Radargeräte ausgerichtet, als sie sich umdrehte, um zurück zur Tür zu gelangen. Nach wenigen Schritten lugte die Hausmeisterin dann aus dem Türrahmen und schaute zaghaft zuerst nach rechts und dann nach links in den Flur hinein, der in das hell erleuchtete Foyer führte. Stille. Alles war wie sonst am frühen Morgen, wenn man von der dahingeschiedenen Frau Ritter einmal absah. Der Blutdruck von Irmgard Hansen hätte jetzt für einen Weltrekord im Guinness-Buch ausgereicht! Ihr Kopf pulsierte derart heftig, als würden winzige Hammer im Gleichklang gegen die Innenseite ihres Schädels schlagen. Ein Glockenspiel von zunehmend verwirrter Sinne. Vielleicht stand der Mörder ja schon hinter ihr, weil sie ihn vor lauter Aufregung schlicht übersehen hatte? Die Hausmeisterin erstarrte infolge dieser Möglichkeit und meinte, den Atem eines Menschen auf ihrem Nacken zu spüren, welcher längst als Epizentrum einer Gänsehaut die totale Bewegungslosigkeit beherrschte.
Genau in diesem Augenblick durchschnitt ein lautes Brummen und Scheppern die
unheilvolle Stille, so dass die Hausmeisterin fast zu Tode erschrak: Das wuchtige Gerät in dem kleinen Raum machte eine letzte Kopie von Adelheid Ritters Gesicht und spie das Blatt Papier wie zur
Verhöhnung der Leiche unter großem Getöse aus dem Schlitz!Frau Hansen wusste nicht mehr, wo ihr der Kopf stand, während sie denjenigen der Schulleiterin ringsherum vor sich auf dem Boden sah.
Wenn auch nur zweidimensional. Die Augen des bizarren Gesichtes schienen der Hausmeisterin auf den Kopien hundertfach zuzuzwinkern. Diese nahm nun beide Beine in die Hände und rannte wie von der
Tarantel gestochen quer durch das Foyer der Volkshochschule auf den Haupteingang zu, auf welchen sie mit vollem Körpereinsatz aufprallte und dabei nicht direkt das Gleichgewicht, aber einen Schuh
verlor. Die Tür des Haupteinganges war nämlich abgeschlossen und elektronisch verriegelt!
aus dem zweiten Kapitel:
Die plattdeutsche Floskel» Dat gifft doch nich'!«, die einfach übersetzt „Das gibt es doch nicht!“ bedeutete, war eine Angewohnheit des Kriminalhauptkommissars, die in seiner Sprache oftmals vorkam. Eine Angewohnheit, die keiner mehr in Frage stellte.
Renko Kettwich war ein urwüchsiger Ostfriese. Rauhe Schale, weicher Kern. Nach der unglücklichen Scheidung von seiner Frau vor etwa einem Jahr ließ er sich nach Kalvenbrück versetzen. Mittlerweile hatte er sich gut eingelebt, doch die Trennung steckte ihm immer noch in den Knochen. Er trank – natürlich erst nach Dienstschluss – allzu gerne Bier und kümmerte sich allzu wenig um sein Äußeres. Dennoch galt er in Fachkreisen als alter Fuchs, der seine näher rückende Pensionierung mehr und mehr zu ignorieren wusste. Die bravourös aufgeklärten Fälle der letzten Zeit gaben ihm Recht. Kettwich war sehr gebildet, was hinter seinem Erscheinungsbild auf den ersten Blick verborgen lag. Nicht verbergen ließ sich hingegen der abgekaute Bleistift, der – wie ein eingetragenes Markenzeichen – stets hinter seinem linken Ohr klemmte. Manchmal fast wie angewachsen.
Demgegenüber war Polizeimeister Florian Lohwasser jung, schlank, sehr gepflegt,
intellektuell und überaus karrierebewusst. Teure Anzüge waren seine Spezialität. Lohwasser wuchs in gehobenen, bürgerlichen Kreisen auf, in denen ein breit gefächertes kulturelles Wissen zu den
Statussymbolen gehörte.
aus dem zwölften Kapitel:
Ähnlicher Beliebtheit erfreute sich der zweite Kurs, der montags in der Kalvenbrücker Bildungsstätte über die Bühne ging. Das Seminar ging heute bereits in die vierte Doppelstunde. Einer der Kursteilnehmer hatte in seiner Gruppe darum gebeten, möglichst Diskretion zu bewahren, was seine Person anging.
Eben diese hetzte nun inkognito mit tief ins Gesicht gezogenem Hut und hochgeklappten Jackett-Revers durch den Haupteingang. Der Mann schüttelte sich, brachte sein Sakko in Ordnung und nahm den nassen Hut ab: Es war Hauptkommissar Kettwich! […]
Bevor eine Diskussion entstehen konnte, wurde der Schreibkurs jäh gestört, denn unten im Foyer tobte plötzlich ein lauter Tumult! Es waren die Teilnehmer des dritten Seminars, das heute zum ersten Mal in der Volkshochschule Kalvenbrück veranstaltet wurde.
Verschiedene Stimmen riefen aufgebracht durcheinander.
»So einen Mist will ich hier nicht!«
»Als Dozentin haben Sie hier nichts verloren!«»Ich verlange mein Geld zurück!« Und so weiter.
Der Kommissar sah sich veranlasst, in das Geschehen einzugreifen. Es war so etwas wie ein beruflicher Instinkt, der ihn dann auf der Treppe nach unten ins Erdgeschoss führte. Seinen Dienstausweis trug er immer im Portemonnaie bei sich und zeigte damit sowohl den Streithähnen als auch Streithühnern seine polizeiliche Autorität mit entsprechender Wirkung. Die aufgeheizte Stimmung im Foyer kühlte ein wenig herunter, doch es lag ein feiner Dunst aus Abscheu und Befürwortung in der Luft.
»Dat gifft doch nich'!«, schimpfte der Kommissar, »vielleicht erklären Sie mir einfach mal, was hier los ist!«
Eine pummelige Frau, oberhalb der dünnen Beine genauso breit wie hoch, trat aus der Menge der Seminarteilnehmer hervor. Die braunen Haare waren zu einem Zopf geflochten und rund um den Kopf gelegt. Die sehr energisch und dennoch kühl wirkende Person reichte dem Kommissar die Hand.
»Sie kommen gerade richtig. Schön, dass Sie da sind! Wenn ich mich kurz vorstellen darf: Mein Name ist Eva Meier-Hail und ich gebe einen Kurs in Politikwissenschaften. Das sollte der Auftakt einer Reihe von Vorlesungen sein. Wie Sie sehen, nicht gerade zu meinem Vergnügen.«
»Gehen Sie nach Hause und nehmen Sie Ihren Quatsch wieder mit!«, schnauzte ein Kursteilnehmer die Dozentin an.
Kettwich versuchte ihn zu besänftigen, doch ein anderer Teilnehmer schnitt ihm das Wort ab: »Sie hat doch ganz Recht und traut sich, die Dinge beim Namen zu nennen.« Er steigerte sich in jene Ansichten hinein, die Frau Meier-Hail verteidigend unterstützte.
»Deutschland muss unter den Völkern wieder eine führende Nation werden – ohne die faulen Ausländer und diesen kulturellen Firlefanz! Diese Botschaft trage ich in die Welt hinaus.«
Der Kommissar konnte ein Handgemenge gerade noch verhindern. Dennoch kam er sich ohne Bleistift irgendwie nackt vor.
Frau Meier-Hail verharrte auf einem Fleck wie ein Fels in der Brandung. Sie trug eine weiße Bluse, einen schwarzen Rock und dazu rote Schuhe mit schwindelerregenden Pfennig-Absätzen, um größer zu erscheinen als sie in Wahrheit war. Diese formte sie nach Belieben zu ihren Gunsten. Der heutige Abend im September war ebenso davon geprägt. Die Dozentin hatte der Vokshochschule Kalvenbrück respektive Frau Ritter vorenthalten, dass sie ihre Lesungen gleichwohl im Auftrag ihrer Partei FdH umsetzen wollte.
Kettwich stellte erleichtert fest, dass die Mehrheit der wütenden Anwesenden die Überzeugungen der Dozentin nicht teilten, doch wer konnte schon in die Köpfe der Menschen hineinschauen? Andererseits stellte sich die bange Frage, wer die Köpfe der Menschen dauerhaft zu manipulieren wusste? Platte Schwarz-Weiß-Muster, die von beiden Seiten bedient wurden, ergaben das mitunter gewünschte Chaos.
»Hegels Dialektik vom Feinsten«, dachte der Kommissar und grunzte. »Ich schlage vor«, unterstrich er, »die Veranstaltung zu beenden. Bedanken Sie sich alle für Ihre freie Meinung und richten Sie Ihren Protest gegen die Schule. Sie wird darüber entscheiden müssen, wie und ob der Kurs hier weitergeht. Mit stumpfsinnigem Wahlkampf auf jeden Fall nicht!« […]
Draußen regnete es jetzt in Strömen. Kettwich war zu Fuß, schlenderte über den klatschnassen Bürgersteig und rief sich die Begegnung mit Eva Meier-Hail ins Gedächtnis zurück. »Jetzt brauch' ich erst mal einen Passionsblumen-Cocktail oder besser gleich 'n Bier«, dachte er. »Und Hunger hab ich auch. Schade, dass Lohwasser nicht dabei ist, er würde das Zitat von Max Liebermann sicher kennen.« Der Kommissar schmunzelte und sagte zu sich selbst: »Ich kann gar nicht soviel fressen, wie ich kotzen möchte.«
„Mords-Hochschule – Bildung für alle“ von Udo Brückmann, Geest-Verlag Vechta 2017, 212 Seiten, ISBN 978-3-86685-650-9, Verkaufspreis 10, 80 Euro
Presse-Artikel:
https://www.kobinet-nachrichten.org/de/1/nachrichten/37343
http://geest-verlag.de/news/udo-brückmann-liest-dinklage-ov-berichtet
Krimi-Netz:
http://www.kriminetz.de/personen/udo-brueckmann
Kundenrezension auf Amazon:
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http://geest-verlag.de/shop/brückmann-udo-mords-hochschule-bildung-für-alle
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Bücher.de:
„Ewig blüht das Leben – Ein dörflicher Kriminalroman“
Buchveröffentlichung, fiktiver Hintergrund ist die Kräutermedizin der Hildegard von Bingen zum Thema der Unsterblichkeit, ebenso wie die alchemistische Spagyrik auf der Grundlage des Heilers Paracelsus.
Geest-Verlag Vechta 2015, Verlagsleitung: Alfred Büngen, Lektorat: Inge Witzlau und Christian Naegeler, ISBN 978-3-86685-540-3
Zum Buch:
In der norddeutschen Gemeinde Hemmelhausen geschehen nicht nur rätselhafte Morde... Auch das Leben spielt verrückt!
Was haben die so unterschiedlichen Teilnehmer eines Klosterseminars zu verbergen? Die Antwort scheint in dem mittelalterlichen Wissen der berühmten Hildegard von Bingen verloren gegangen zu sein. Existiert die letzte Zutat des Ambrosia-Elixiers tatsächlich?
Die ehrwürdige Abtei St. Maria Magdalena, ein Bestattungsunternehmen und der
örtliche Friedhof hüllen sich in Schweigen.
Begeben Sie sich auf eine humorvolle Exkursion in die Unsterblichkeit. Dieses Buch wird Sie auf tödliche Weise dabei begleiten! Inklusive einer detaillierten Krimi-Kräuterkunde im
Anhang.
Viel Vergnügen mit einem Kriminalroman, der sich gleichermaßen als
Gesellschaftssatire und naturheilkundlicher Ratgeber darum bemüht, Licht in das Dunkle zu bringen.
Leseprobe,
aus dem ersten Kapitel:
Mit der beschaulichen Ruhe in Hemmelhausen war es wohl für immer vorbei. Doch die Ereignisse durften unter keinen Umständen nach außen dringen. Die Situation in dem kleinen Dorf in Norddeutschland schien mehr als angespannt zu sein. Das ungewöhnliche Geschehen in dem Alten- und Pflegeheim „Sankt Gertrud“ verlangte dringend nach Aufklärung.
Hemmelhausens Bürgermeister Josef Lehmkuhl fürchtete sich mehr davor, sich vor der Presse lächerlich zu machen, denn dies wäre bei seiner bevorstehenden Wiederwahl sicher nicht von Vorteil. Die Leiterin des Heims sowie die zuständigen Pflegekräfte wurden bis auf Weiteres darum gebeten, die Ereignisse geheim zu halten. Wahrscheinlich handelte es sich nur um eine Verkettung seltsamer Zufälle, die es jedoch gründlich zu untersuchen galt.
Was war passiert? Das örtliche Pflegeheim wurde an diesem Sonntag zum Schauplatz von übernatürlichen Sensationen! Ein Patient, der aufgrund von Hüftproblemen an Krücken ging, konnte wie nach einer Spontanheilung ohne Beschwerden wieder laufen und eine demenzkranke ältere Dame, die einst Naturkundelehrerin gewesen war, glänzte mit einem Vortrag über Einsteins Auffassungen zur Quantenphysik. Unglaublich! Walteten hier tatsächlich Kräfte, die nicht von dieser Welt waren?
Im Rathaus wurde der Dorfpfarrer hinzugezogen, da er sowieso an seine Schweigepflicht gebunden war. Außerdem war es deshalb naheliegend, weil das rot geklinkerte, katholische Pfarrhaus der Gemeinde gleich gegenüberlag. Der Pfarrer hielt sich im Gespräch aber auf seltsame Weise zurück. Als Seelsorger empfahl Hans-Peter Bockhorst nichts zu überstürzen und die Dinge abzuwarten. Er wirkte eingeschüchtert und hatte nicht einmal eine abwägende Meinung, geschweige denn eine Eingebung von oben.
Dennoch begleitete er den Bürgermeister bedächtigen Schrittes in die mit großem Aufwand renovierte Seniorenresidenz „Sankt Gertrud“, während die Kirchenglocken von St. Martin unaufhörlich und lautstark das Abendgebet einläuteten. Wie immer gegen 19 Uhr und fünfzehn Minuten lang. Die beiden obersten Würdenträger des Dorfes hatten sich bereits zu einem internen Treffen per Telefon angemeldet. Vom Rathaus bis zum Altenheim waren es etwa zehn Minuten zu Fuß, so dass die Herren unter Glockenläuten durch die sauberen Straßen gingen. Unterwegs wurden sie von den Bürgern natürlich sofort erkannt und vielfach gegrüßt. Während Lehmkuhl – Ende sechzig –von auffallend rundlicher Gestalt war, aber dadurch kaum einen Hals besaß, wirkte Pfarrer Bockhorst – Ende vierzig - wie ein Sportler. Sein besonderes Merkmal war der ergraute Vollbart in dem blassen Gesicht. Dazu trug er eine filigrane, randlose Brille und selbstverständlich einen schwarzen Anzug. Passend zu den schwarzen, lockigen Haaren.
»Herr Pfarrer, ich möchte Ihnen für Ihre schöne Predigt heute Morgen danken«, entgegnete eine ältere Frau ganz verzückt und tätschelte dem Seelsorger die Hände. »Ihre Worte über die Geburt des Lebens und über Adam und Eva haben mich sehr nachdenklich gestimmt.« Anschließend steckte sie ihm ein paar Hustenbonbons zu.
Der Dorfpfarrer bedankte sich kurz und lächelte matt. Der steife Kragen schien ihm den Hals zuzuschnüren. Jeder wusste um das Problem seiner unsicheren Stimme und seines nervösen Magens, so dass er aufgrund von Übelkeit oftmals krank war, aber tapfer seinen Dienst verrichtete. Außerhalb seines Amtes vermied er jedoch jede unnötige Redseligkeit. Seine extreme Schüchternheit machte ihm zu schaffen. Der Bürgermeister dagegen gab sich betont volksnah, da er selbst die unsinnigste Konversation bewusst für seine Wiederwahl einsetzte. Oftmals sogar, ohne es selbst zu merken!
Ein lauer Frühlingswind schlich durch die einladende, mit bunten
Papp-Schmetterlingen beklebte Eingangstür der mit 84 Betten nahezu ausgelasteten Pflegeeinrichtung.
aus dem dritten Kapitel:
Der Dorfpfarrer rührte die Anwesenden zu Tränen und sprach Ihnen in mitreißender Weise aus den Herzen. Schlussendlich fanden alle Beteiligten inklusive des Verstorbenen zu dem eigentlichen Anlass zurück, als der geschlossene Kiefern-Sarg auf dem Aufbahrungswagen, dessen Rädchen in der Kapelle entsichert wurden, nach draußen transportiert wurde. Vorbei an einem Spalier aus Kerzenständern, Blumenkränzen und traurigen Menschen.
Jeweils drei schwarz gekleidete Leichenträger positionierten sich neben der hölzernen Kiste mit jeweils drei Griffen auf jeder Seite. Der Zug mit dem Pfarrer und seinen Ministranten an der Spitze setzte sich feierlich in Bewegung, die Trauergemeinde gab dem Verstorbenen bei wärmendem Frühlingswetter das letzte Geleit. Die nunmehr verwitwete Ehefrau ging ebenso wie die fünf erwachsenen Kinder gebeugt hinter dem rollenden Sarg, zwölf Enkelkinder unterschiedlichen Alters im Schlepptau. Freunde, Nachbarn und Bekannte schlossen sich an. Und solche, die bewusst die nachfolgende Kaffee- und Kuchentafel zum Ziel ihrer Schwermut hatten.
Während sich die Trauergemeinde nach und nach um das offene Grab versammelte, wurde der Sarg von den sechs Leichenträgern auf die beiden Holzdielen gesetzt. Vier der Sargträger – zwei auf jeder Seite – sicherten die beiden Seile und zogen sie unter der Kiste stramm, während die verbliebenen Sargträger die Holzdielen vorsichtig entfernten. Nun wurde der Sarg langsam in das Grab hinunter gelassen. Der schwerste Moment bei einem Begräbnis. Schluchzende Angehörige wurden tröstend in den Arm genommen, Kinderweinten. Pfarrer Bockhorst segnete die Heimkehr des Toten und schmiss eine bereitgelegte Schippe voll Sand auf den Sarg, der sich nicht ganz so tief im Erdreich befand, wie üblicherweise vorgesehen. Aber es reichte aus.
»Asche zu Asche, Staub zu Staub …«
Plötzlich klingelte in unmittelbarer Nähe ein Handy! Viele der Trauergäste kontrollierten peinlich berührt, ob sie tatsächlich vergessen hatten, ihr Mobiltelefon zu Beginn der Beerdigung auszustellen. Nein, der handelsübliche Klingel-Ton kam direkt von tief unten aus der Gruft! Die Witwe und eine ihrer Töchter wurden fast ohnmächtig, ein Raunen ging durch die Menge. Getuschel. Der Klingelton wollte einfach nicht aufhören und brannte sich in die Köpfe der Anwesenden. Einige taten so, als wenn nichts weiter wäre, andere sahen sich aufgeregt um oder versuchten die unerfreuliche Angelegenheit hilflos weg zu lächeln.
»Dabei hat mein verstorbener Mann gar nicht so ein modernes Telefon«, offenbarte die Witwe unter Tränen.
Bestürzung in allen Gesichtern. Das Handy gab nicht auf.
Pfarrer Bockhorst wirkte überfordert, er schien der Situation nicht mehr Herr zu sein und blickte über den unscheinbaren Rand seiner Brille. »Wir müssen die Zeremonie an dieser Stelle leider unterbrechen«, näselte er deutlich, »ich habe so etwas auch noch nie erlebt und bitte vor allem die Angehörigen, zurück in die Kapelle zu gehen. Nur, ähm … vorübergehend.« Sowohl sein Kragen als auch sein Rücken waren steif wie ein Brett.
Die Leichenträger bekamen nun Anweisung, den Kiefern-Sarg mittels der Seile wieder zu Tage zu befördern. So wurde er seiner Bestimmung vorläufig entzogen, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Für Hemmelhausen war es eine »Prüfung des Allmächtigen«, wie es einer der Trauergäste formulierte und nun auf die Knie fiel.
Das Handy klingelte aus dem offenen Grab heraus munter weiter.
Jetzt wurde nicht nur die Grube, sondern eine überaus gruselige Szene freigelegt: Auf dem Boden des Grabes ragte ein schwarzer Schuh aus dem Sand. Ein Schuh, in dem ein Fuß steckte! Diejenigen, die am Grab geblieben waren, wichen bei dem Anblick zurück. Die Leute erschauderten.
Anneliese Olberding hatte von all dem nichts mitbekommen, da sie sich mehr im Hintergrund aufhielt und heimlich ihrem roten Auto zuprostete. Einer der Ministranten holte sie auf Geheiß des Pfarrers an das offene und gleichzeitig belegte Grab, das ringsherum für große Aufregung sorgte!
Kurz vor dem Ziel blieb die Bestatterin verunsichert stehen. Der Klingelton kam ihr bekannt vor. »Vitus? Vitus, nimm doch ab! Hörst du denn nicht?«Wieder läuteten die Glocken von St. Martin und lieferten sich mit dem Klingelton des Handys ein Wettrennen.
Der Blick in das Grab war es, der die Miene von Frau Olberding – erneut von tiefen Falten durchzogen – zu einer entstellten Maske formte. Die Gesichtszüge ihres Mannes wiederum zeichneten sich unter dem teilweise aufgelockerten Sand ab: Mit aufgerissenen Augen und offenem Mund, als sei der Zeitpunkt des Todes in einem stummen Schrei festgehalten und eingefroren.
aus dem elften Kapitel:
»Das ist nun wirklich eine kleine Sensation«, kündigte die Äbtissin an, nahm eine braune Flasche in die Hand und begutachtete leicht schüttelnd den Inhalt. »Darin befindet sich das legendäre „Aurum Potabile“, das Trinkgold der großen Alchimisten des Mittelalters!«
Pfarrer Bockhorst bekreuzigte sich mehrfach hintereinander.
»Es gilt als Allheilmittel, das die Gesundheit des ganzen Organismus wiederherstellt«, schwärmte die Mutter Oberin. »Alle Körperflüssigkeiten und alle Körperzellen werden von Grund auf gereinigt – so wie bei einer Verjüngungskur. Außerdem kräftigt das Aurum das innere Gleichgewicht und das Selbstbewusstsein.«
Offensichtlich war es doch kein Scherz von Schwester Walburga, denn die Äbtissin schaute mit der ganzen Würde ihres Amtes in die Runde.
»So ein Unsinn«, behauptete Elisabeth Rosentreter. »Es ist nicht möglich, ein Edelmetall wie Gold komplett in einer Flüssigkeit aufzulösen!«
»Und dennoch ist es so, selbst bei Edelsteinen«, kam die Antwort von Schwester Walburga. »Es könnte sich um ein Phänomen handeln, dass zwischen den Ebenen von Körper, Seele und Geist wirksam ist. So ähnlich wie bei der Quantenheilung.«
Das „Aurum Potabile“ stand in krassem Widerspruch zu den anerkannten Naturgesetzen. In der Klosterkirche von St. Maria Magdalena wusste keiner der Seminar-Teilnehmer, was er davon halten sollte. War es nur ein Mythos aus dem Mittelalter?
Die Äbtissin jedenfalls vertrat ebenso stur wie nachdrücklich ihre Auffassung. »Die mächtigsten Herrscher, Kaiser und Könige besaßen früher Trinkbecher aus purem Gold. Man könnte sich durchaus Gedanken machen, warum dieses so gewesen sein mag«, sagte Schwester Walburga und fügte hinzu: »Auch durch unsere Heilige Hildegard ist eine Goldkur überliefert. Flussgold aus dem Rhein wird dabei zu Pulver zerrieben, nur im Gegensatz zum Aurum lässt es sich nicht vollständig auflösen. Die Wirkung aber istauch hier schon erstaunlich.«
Julia Siemer klebte der Äbtissin förmlich an den Lippen.
Unbeirrt setzte die Mutter Oberin ihre Bemühungen fort. Mit einer Pipette gab sie 21 Tropfen „Aurum Potabile“ - das tatsächlich eine goldene Farbe besaß - in das Kupfergefäß, verschloss es mit dem Trichter und kontrollierte, ob alle Teile des Destillators fest miteinander verbunden waren.
»Schön, schön«, meinte sie, »wir können der Mischung zu Leibe rücken.« Sie drehte den Gashahn auf und entzündete mit einem Feuerzeug die Herdplatte unter dem Kupfergefäß. Ein Thermometer oberhalb des Trichters überwachte die Temperatur, die sich bei gewollten 37 Grad Celsius einpendelte.
Die Apparatur begann zu arbeiten: Der Dampf aus dem Kupfergefäß stieg in den Trichter, wurde sodann in den „Liebigkühler“ geleitet, kondensierte an dessen Wänden und gelangte als konzentrierte Flüssigkeit in den Auffangbehälter. Ein denkbar einfaches Prinzip.
»Meine Damen und mein Herr, das „Ambrosia-Elixier“ geht in die nächste Runde«, verriet die Äbtissin. Sie nahm die Kräuter- und Pulver-Mischung, die jetzt zusammen eine feste Masse bildete, mit einem Holzlöffel aus dem Kupfergefäß und gab sie in einen Mörser-Schale. Nun kam der Clou: Mit Hilfe eines Hand-Bunsenbrenners wurde der gesamte Inhalt kurzerhand abgefackelt und die so gewonnene Asche im Mörser zerrieben! Anschließend schüttete die Mutter Oberin das übrig gebliebene Destillat dazu und verrührte behutsam beide Komponenten.
Erneut zeigten sich die Seminar-Teilnehmer verblüfft. Die ganze Sache war ihnen längst nicht mehr geheuer. Was würde als nächstes passieren? Der Versuch, die DNA eines wahrhaftigen Drachens zu klonen?
»Die Veraschung des eingetrockneten Restes ist nun einmal notwendig«, sagte Schwester Walburga unmissverständlich. »Die Geistes- und Seelenkräfte der einzelnen Zutaten sind aus der Materie gelöst und werden ihr wieder zugeführt. Doch damit ist unser „Ambrosia-Elixier“ leider noch nicht fertig.«
»Was?« Anneliese Olberding war außer sich. Ihre Falten sprachen Bände. »Soll das etwa heißen, wir können es noch gar nicht benutzen?«
Die anderen Teilnehmer schwangen sich in ihre Haltung mit ein. Fast waren es Drohgebärden!
»Sie haben in diesem Kloster nichts verloren!«, bellte Frau von Zitzewitz entrüstet und korrigierte den Sitz der Sonnenbrille auf ihrem Pagenkopf. Ihr Blut geriet in Wallung.
»Wie ich Ihnen bereits sagte, ist die Herstellung des Elixiers nicht unbedingt einfach«, rechtfertigte sich sogleich die Mutter Oberin. »Die gewonnene Substanz muss an drei Tagen nochmals destilliert werden, um die energetischen Information aufschlüsseln zu können. Und zwischen den Destillationen muss immer ein Tag Pause liegen. Wie Sie selbst erfahren haben, reagiert das Elixier auf Ihre persönlichen Bedürfnisse uns wirkt sich bei jedem natürlich anders aus.«
»Und das, was Sie uns beim letzten Mal mitgegeben haben …?«, warf Frau Rosentreter ein.
»… war nur ein Rest eines älteren Elixiers.« vervollständigte Hans-Peter Bockhorst den Satz in einzigartig näselnder Weise. Er strich sich über seinen grauen Vollbart und schaute gleichzeitig über den konturlosen Rand seiner Brille.
»Wir sitzen also auf dem Trockenen, stimmt's?« wollte Julia Siemer wissen. Ihre Stimme überschlug sich.
»Ganz und gar nicht!«, gab Schwester Walburga zu verstehen und zauberte abermals Fragezeichen in die unglücklichen Augen ihrer Schützlinge. »Den ganzen Aufwand habe ich betrieben, um Ihnen zu zeigen, dass unser „Ambrosia-Elixier“ ohne die allerletzte Zutat überhaupt keinen Wert hat und seine Wirkung durchaus verfehlen kann.« Die Äbtissin räusperte sich. »Wenn Sie die innere Bereitschaft zu einer Veränderung in ihrem Leben nicht haben, wird Ihnen das Elixier nicht dauerhaft folgen, sondern Sie nur ein kleines Stück Ihres Weges begleiten.«
»Aber was ist denn jetzt die letzte Zutat?«, fragte Frau Olberding voller platzender Ungeduld.
Schwester Walburga schaute nacheinander jedem ihrer Schützlinge tief in die Augen. »Es ist der Glaube, denn erst der Glaube versetzt Berge.«
„Ewig blüht das Leben – Ein dörflicher Kriminalroman“ von Udo Brückmann, Geest-Verlag Vechta 2015, 210 Seiten, ISBN 978-3-86685-540-3, Verkaufspreis 10, 80 Euro
Presse-Artikel:
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Bücher.de:
"Zirkus Konzentrazani – Ein Roman gegen das Vergessen"
Buchveröffentlichung mit Volker Hedemann in Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte Esterwegen und dem Dokumentations- und Informationszentrum Emslandlager, Kurt Buck, Marianne Buck und Fietje Ausländer.
Geest-Verlag Vechta 2013, Verlagsleitung: Alfred Büngen, Lektorat: Inge Witzlau.
ISBN 978-3-86685-420-8, Titelbild von Karin Flörsheim, Düsseldorf.
Buchpremiere in der Gedenkstätte Esterwegen am 17. 11. 2013, Einführung durch Dr. Andrea Kaltofen, Landkreis Emsland; gemeinsames Interview für Radio NDR 1/ NDR Kultur. Lesung mit dem Schauspieler Tobias Langhoff im Rahmenprogramm des 1. Internationalen Filmfestes Potsdam am 11. 10. 2014, Kulturhaus Babelsberg.
Zum Buch:
Der „Zirkus Konzentrazani“ wurde am 27. August 1933 im Konzentrationslager Börgermoor aufgeführt. Das berühmte „Moorsoldatenlied“ erfuhr am Schluss der Vorstellung seine Premiere. Der historische Hintergrund dieser weitgehend unbekannten und unglaublichen Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit. Der Roman gibt diese wieder, stellt sie aber in einen größeren fiktiven Zusammenhang, so dass der Alltag im KZ für den Leser erlebbar wird. Außerdem werden die ungewöhnlichen Vorgänge in Börgermoor in ihrer geschichtlichen Einzigartigkeit betont. Die inneren, menschlichen Konflikte stehen im Vordergrund.
Vielleicht bitet gerade der belletristische Zugang ein Verständnis für die extreme Situation der Häftlinge in einem der ersten Konzentrationslager Deutschlands.
Der "Zirkus Konzentrazani" ist ein Sinnbild für geistigen Widerstand. Die Intention des Romans ist es, Kunst und Kultur darüber hinaus als Möglichkeit der Selbstreflexion zu betrachten, als Möglichkeit, auch in einer extremen Situation von Gewalt und Unterdrückung die eigene Persönlichkeit zu bewahren, so wie es im KZ Börgermoor geschehen ist. Kultur kann wesentlich daran beteiligt sein, Ungerechtigkeit und Unfreiheit zu überleben. Die Autoren sind davon überzeugt, dass sich durch Kunst und Kultur Situationen verändern lassen. So entsteht eine neue Perspektive. Geistiger Widerstand ist geistige Freiheit. Der "Zirkus Konzentrazani" ist ein Beispiel dafür. Die Intention ist zeitlos und stets aktuell, solange auf diesem Planeten die unterschiedlichsten Unterdrückungsmaschinerien wirksam sind.
Die Arbeit an diesem Roman war sehr aufwendig und hat bis zur Buchpremiere am 17. 11. 2013 in der Gedenkstätte Esterwegen fast vier Jahre gedauert. Die Mitarbeiter des "Dokumentations- und Informationszentrums Emslandlager in der Gedenkstätte Esterwegen" (DIZ) haben die Autoren dabei begleitet. Original-Dokumente und Prozessakten konnten im Staatsarchiv Oldenburg eingesehen werden.
Dr. Volker Hedemann, geb. 1960, studierte Philosophie und Geschichte in Berlin und Bremen, Promotion in Politikwissenschaft an der Universität Oldenburg. Dozent für Philosophie und in der Erwachsenenbildung, diverse Lehraufträge. Veröffentlichung des Buches "Zigeuner!" über die Kontinuität der rassischen Diskriminierung in der alten BRD. Lebt heute in der Nähe von Oldenburg.
Zum Inhalt:
Der Düsseldorfer Regisseur und Schauspieler Richard Immenroth wird im Mai 1933 von der SS verhaftet. Er wird als Anhänger der kommunistischen Partei in das Emslandlager Börgermoor überführt. Hier organisiert er zusammen mit anderen Künstlern und Intellektuellen Vortragsabende und Sprachkurse. Die unmenschliche Arbeit im Moor und die allgegenwärtigen Demütigungen durch die SS lassen die Häftlinge immer wieder um ihr eigenes Leben bangen. Nur die kulturellen Veranstaltungen nähren die gemeinsame Widerstandskraft.
Nach einer Nacht, in der die Gefangenen schwer misshandelt werden, bricht große Resignation aus. Auch der unerwartete Besuch von Ehefrauen und Müttern im KZ bringt keine Wende. Jeder der Häftlinge scheint sich dem Schicksal zu ergeben.
Richard Immenroth und seine Mithäftlinge, Georg Heuer und Gustav Rimbeck, unterbreiten ihren Kameraden einen folgenreichen Vorschlag. Die nächsten Tage und Wochen werden unter widrigen Umständen damit zugebracht, diesen Vorschlag in die Tat umzusetzen: Kommandant Tangermann genehmigt die Aufführung des "Zirkus Konzentrazani" auf dem Lagerplatz.
Die Proben und die Organisation schweißen die Kameraden wieder enger zusammen. Ende August, an einem heißen Sommertag, findet der Zirkus im Lager Börgermoor statt. Im Publikum sitzen alle Häftlinge sowie die SS-Lagerleitung. Es wird ein voller Erfolg. Die mitwirkenden Clowns und Artisten sparen nicht mit versteckter Kritik an der SS. – Am Ende der Aufführung wird zum ersten Mal das "Moorsoldatenlied" gesungen, das von Rimbeck eigens für den Zirkus komponiert worden ist. Auch ein Großteil der SS kann sich diesem emotionalen Augenblick nicht entziehen. In der Folgezeit kommt es daher zu außergewöhnlichen Situationen; viele SS-Leute nehmen jetzt an den wiederbelebten Kultur-Abenden der Häftlinge teil. Erste Annäherungen kommen zustande. Außerhalb des Lagers, im Moor, zeigen Ordnung und Disziplin erste Risse. Daraufhin droht sogar die Polizei, die Führung des Lagers zu übernehmen. Die Wut einiger SS-Leute schlägt um in eine Solidarisierung mit den Häftlingen, die ihnen näher stehen als die verhasste Polizei.
Leseprobe,
aus Kapitel 1: Die Ankunft
Die karge Umgebung und die nahe Bedrohung töteten jeden Gedanken. Erstarrte Körper bewegten sich wie Maschinen-Menschen und betraten einen Ort außerhalb der Welt. Das grelle Licht sog die Masse in ein Gefühl der Ausweglosigkeit hinein. Keiner mochte den anderen ansehen, denn die Angst war zu groß, im Gesicht des Nebenmannes sein eigenes Spiegelbild zu entdecken.
»Sie sind da!« hörten sie mehrere Stimmen rufen.
Der scharfe Klang ließ Richard zusammenzucken. Er blickte hoch und war geblendet. Bunte Flecken tanzten vor seinen Augen. Erst langsam gaben die Scheinwerfer die Umrisse des Lagers wieder. Hunde kläfften und bellten wie angestachelt.
Das ist also unsere Zukunft, dachte Richard und fuhr mit der Zunge über seinen wunden Gaumen.
Würde er seine Frau jemals wiedersehen? Wie ging es seinem Vater? Tränen flossen ihm über die Wangen und vermischten sich mit Dreck und Schweiß.
»Das darf ich nicht zulassen. Auf keinen Fall.« Immenroth schüttelte unmerklich den Kopf. »Georg, wir dürfen uns niemals aufgeben!«
Die beiden Freunde wechselten einen kurzen Blick miteinander.
»Nein, niemals«, antwortete Heuer entschlossen und ging gemeinsam mit den anderen durch das streng bewachte Tor.
Hier und dort lag Stacheldraht herum, überall war Bauschutt. Auf beiden Seiten des Tores standen einfache Holzhäuser.
Richard schaute sich um. Nein, das kann doch nicht das Lager sein, das uns angekündigt worden ist, dachte er.
Nichts schien hier am rechten Ort zu sein, nichts war wirklich fertig. Allein die herabhängende Fahne an dem weiß gestrichenen Mast sorgte für einen roten Farbtupfer in der grauen Unordnung. Sie ließ in der Mitte ein Hakenkreuz erahnen.
»Willkommen in Börgermoor!«, sagte ein riesiger, dicker Mann mit tiefer Bassstimme. Er trug an einem Bein einen Stiefel und an dem anderen einen Holzschuh. »Meine Herren, ich bin der Kommandant dieser hübschen Anlage. Ich hoffe, Sie hatten eine gute Reise!«
Der Kommandant wies mit einer lässigen Geste auf das neben ihm stehende Begrüßungskomitee: Männer in schwarzen Uniformen lachten zynisch. In ihren Händen hielten sie immer noch die Knüppel, mit denen sie die vor ihnen Stehenden soeben beim Eintritt in das Lager empfangen hatten. Runenzeichen blitzten auf.
Es war eine gespenstische Atmosphäre. Die Gefangenen erbleichten. Aufgereiht wie ein Bataillon, das kurz davor war, in die Schlacht zu ziehen, standen sie da. Sie sahen aus wie eine Armee, die jede Illusion an einen Sieg verloren hatte. Aschgraue Gesichter. Leblose Augen schauten aus tiefen Höhlen in ein Nichts. Alle Dimensionen von Zeit und Raum hatten sich reduziert auf das nackte Dasein. Dem gegenüber befanden sich wohl an die fünfzig SS-Männer, die durch ihre Haltung unmissverständlich deutlich machten, wer hier über Leben und Tod bestimmte. Sie hielten Karabiner im Anschlag. –
Das Lager wurde durch eine breite, unbefestigte Straße und einen Lagerplatz in zwei Hälften geteilt. Rechts und links standen insgesamt fünfzehn Holzhäuser, die jeweils mit der Giebelfront zur Straße zeigten. Das ganze Gelände war durch einen hohen Stacheldrahtzaun vierfach gesichert. In der Mitte, zwischen zwei Zäunen, gab es einen Patrouillengang für die Posten der Wachmannschaft und ihren abgerichteten Schäferhunden. Das KZ war von insgesamt zwölf Scheinwerfern umgeben, die auf hohen Pfählen nachts die Stacheldrahtzäune und das Tor beleuchteten.
Alles das wurde von Richard und seinen Kameraden wie durch einen Schleier wahrgenommen. Die gesamte Umgebung war eine einzige Gefahr.
Kommandant und SS-Hauptsturmführer Tangermann räusperte sich. »Ab heute haben Sie das große Vergnügen, Bewohner des Ersten Preußischen Konzentrationslagers zu sein. Wir werden dafür Sorgen, dass Verräter am deutschen Vaterland ihre Lektion bekommen.« Seine Bassstimme erreichte jeden Winkel des Lagers. Der Ton wurde schärfer. »Schaut nicht so blöd! Ab morgen wird richtig geschuftet, ihr Schweine! Es ist schon spät, jetzt ab mit euch in die Betten!«
Abrupt beendete Tangermann seine kurze Ansprache und humpelte zufrieden zurück zur Kommandantur; sie lag außerhalb des Lagers direkt neben den Baracken der SS-Wachmannschaft. Dabei brummte er gefällig vor sich hin, als ob er ein Lied anstimmen wollte.
Die Verwirrung war groß.
»He, ihr da«, befahl ein groß gewachsener SS-Mann, »und zeigte auf Richard und Georg.
Die beiden Freunde verstanden nicht sofort und machten unwillkürlich zwei Schritte zurück. Verärgert ging der SS-Mann auf beide zu, zog seinen Sturmriemen fest und verpasste Richard eine schallende Ohrfeige.
»Brust nach vorne, Augen geradeaus!« fauchte der SS-Mann, streckte den Rücken durch und stemmte seine Hände in die Hüfte. Sein Tonfall wirkte seltsam hoch.
Richard und Georg bemühten sich, so gut es ging gerade zu stehen und riefen »Jawohl!«, fast wie mit einer Stimme.
Mit Fußtritten scheuchte der SS-Mann die beiden die staubige Straße hinunter, in die Baracke 10.
Die Freunde hielten keuchend inne. Hier sahen sie eine Unzahl von doppelstöckigen Feldbetten, an einer Seite des Raumes hintereinander aufgereiht, ein Labyrinth aus grauen Eisenstangen. Das Licht der Scheinwerfer drang von draußen nur schwach durch die kleinen Fenster mit den Gitterkreuzen. Auf den knarrenden Bodendielen standen lange Tische, Bänke und Schemel. Georg und Richard taumelten durch den hölzernen Saal und belegten in der hintersten Ecke eines der Etagenbetten, Immenroth unten und Heuer oben. Erschöpft ließen sie sich auf die Strohsäcke fallen. Von da aus beobachteten sie, wie sich der Raum langsam mit Menschen füllte. Die Deckenlampen, nackte und frei hängende Glühbirnen, wurden angeknipst und beleuchteten das Geschehen im Detail. Rangeleien und ein lautes Stimmengewirr waren nur von kurzer Dauer. In der Baracke kehrte schnell Ruhe ein und das Licht wurde wieder gelöscht. In dieser Stille wurde es jedem auf beklemmende Weise deutlich: Sie waren Häftlinge auf unbestimmte Zeit.
»Jetzt wird gepennt!« schrie auf einmal ein SS-Mann aus voller Kehle, der fast unbemerkt den Raum betreten hatte.
Kaum ein Atemzug war mehr zu hören. –
Ein schriller Pfiff beendete die Stille der kurzen Nacht. Um halb fünf war die Wirklichkeit zurück. Die Häftlinge der Baracke 10 wurden durch eine Trillerpfeife jäh aus dem Schlaf gerissen. Wie auf Knopfdruck richteten sich die unterschiedlichen Gestalten in den schmalen Betten auf. Der Pfiff drang in jede Körperzelle und schärfte die Sinne für die augenblickliche Situation. Auf der Stelle verließen sie ihre Betten, um Haltung anzunehmen. Einige der Strohsäcke und Stroh gefüllte Leinen-Kopfkissen rutschten dabei auf den Boden.
So weit haben sie uns schon, dachte Richard bei diesem Anblick.
»Was ist das denn für ein Haufen? Jeder tot geprügelte Hund ist schneller auf den Beinen! Das machen wir doch gleich nochmal!« befahl ein kleiner, untersetzter SS-Mann, den die Gefangenen vom Marsch in die Baracke her kannten. Seitdem wussten sie, wie sehr SS-Scharführer Lothar Griesbach es genoss, Angst und Schrecken zu verbreiten.
Zusammen mit seinen Leuten schritt er die Reihen der Häftlinge ab und ahmte einen Mann nach, der mit hängenden Schultern und krummem Rücken dastand. Der Häftling, der ein wenig an die Romanfigur "Quasimodo" erinnerte, sah vorsichtig auf. Der SS-Mann brach in schallendes Gelächter aus und drehte sich zu seinen Männern um. Dabei blinzelte er unablässig und übertrieben mit seinem rechten Auge.
»Was bist du denn für ein komischer Vogel? Wo läutest du denn die Glocken?« Die SS-Männer kriegten sich nicht wieder ein vor Lachen.
Mit fester Stimme entgegnete der Häftling: »Ihre stattliche Erscheinung macht mich nervös.«
Griesbach war überrascht, das Lachen blieb ihm im Hals stecken. Diese freche Antwort konnte er vor seinen Männern so nicht stehen lassen. Er trat den Häftling mit voller Wucht in den Magen.
»Hast du hier etwa 'was zu sagen? Du hast stramm zu stehen und gefälligst die Schnauze zu halten! Wir fangen gleich nochmal von vorne an. Los! Ab in die Koje! Na, wird's bald?«
Gekrümmt vor Schmerzen brauchte der Häftling mehrere Versuche, wieder in sein oberes Etagenbett zu klettern. Nun begann eine nicht enden wollende Prozedur. Die Trillerpfeife ertönte wieder und wieder.
»Aufstehen! Hinlegen! Strammstehen! – Na siehste, er kann's doch! Morgen früh könnt ihr das alle!« Befriedigt verließ Griesbach mit einem zuckenden Auge die Baracke, vorbei an den grinsenden SS-Männern. Kurz vor der Tür blieb er stehen und drehte sich gezielt zu einem seiner Kollegen um.
»Wartenberg, übernehmen Sie die Instruktionen!«
Der angesprochene SS-Mann salutierte. Es war derselbe groß gewachsene Mann, der Georg und Richard mit Fußtritten in die Baracke 10 getrieben hatte. Er hatte breite Schultern und ein fein geschnittenes Gesicht, das von seiner Mütze mit dem stramm gezogenen, ledernen Sturmriemen eingerahmt wurde. Er wirkte unsicher. Bei allem, was er tat und sagte, schien er seine Mundbewegungen nicht unter Kontrolle zu haben.
»So, dann wollen wir euch mal fein machen«, rief Wartenberg den Gefangenen zu und beschrieb ihnen den Weg zur Kleiderkammer, einer eigens dafür errichteten Baracke im Lager. Seine Stimme klang, als wenn er fortwährend eine Luftballonfüllung Helium inhalierte. Die hohe Tonlage verlieh seiner aufgesetzten Männlichkeit eine lächerliche Note.
»Der Entenschnabel steht ihm richtig gut«, raunte Richard zu Georg und zog wie der SS-Mann seine Lippen kurz nach vorne und dann in die Breite.
»Was gibt's da zu tuscheln? Maul halten! Euch beide hab ich sowieso schon auf dem Kieker«, entgegnete Wartenberg bissig. Dem nächstbesten Häftling trat er mit dem Stiefel gegen das Schienbein.
»In Zehner-Gruppen wird angetreten, in zwei Reihen marschiert«, quäkte er.
Nacheinander mussten alle Häftlinge ihre neue Kluft abholen. Die Aufsicht über die Kleiderkammer neben der Arrest-Baracke führte ein SS-Mann der Wachtruppe. Hinter einem hohen Pult thronte er wie ein Richter auf seinem Amtsstuhl und sah verächtlich auf sein Gegenüber herab. So fühlte er sich über alle Maße erhaben. An keine Regel gebunden. Akribisch genau beobachtete er jede Bewegung.
»Stillgestanden! Augen geradeaus! Rührt euch!«
Drei Gehilfen aus den Reihen der Häftlinge verteilten stumm an jeden Leidensgenossen eine alte, grüne Uniform der Schutzpolizei, leicht ausgeblichen und mit Mottenkugeln gespickt, eine schirmlose Rekruten-Mütze und ein Paar klobige Holzschuhe, die mit Gummisohlen aus alten Autoreifen beschlagen waren. Dazu gab es pro Mann einen blechernen Picknapf und einen Löffel. Das matt glänzende Essgeschirr war noch ungebraucht und neu im Lager eingetroffen.
»Damit könnt ihr euch jeden Tag selbst die erlesensten Köstlichkeiten abholen«, höhnte der drahtige Aufseher mit schriller Stimme. Seine Augen verengten sich. Die hohen Wangenknochen verliehen seinem Gesicht etwas Geisterhaftes, Untotes. Unberechenbares.
»Wir werden ja noch öfter die Freude miteinander haben«, verkündete er spöttisch
und sonnte sich in einem Gefühl der Unbesiegbarkeit.
aus Kapitel 9: Der Zirkus
Der stellvertretende Kommandant und Truppführer Horst Schellhorn, der in der ersten Reihe bereits Platz genommen hatte, stützte seinen Kopf skeptisch auf seinem Zeigefinger ab. Schellhorn reckte den Hals und schaute sich arrogant um. Er gab sich als Mann von Welt. Was konnten ihm die da vorne schon bieten? Schließlich hatte er jeden Häftling wissen lassen, dass er ein Kulturmensch war und Nietzsche las.
Als sich schließlich alle SS-Männer und auch der SS-Scharführer Griesbach gesetzt hatten, stand nur noch Tangermann vor den Bänken. Er trat mehrere Schritte vor und stand fast in der Mitte der Manege. Der Kommandant stützte seine Arme wie Pranken in die Hüften und nahm breitbeinig die Pose des Führers an. Es sah aus, als wenn er es mehrere Male vor dem Spiegel geübt hätte. Dann donnerte er mit seiner lauten Bassstimme los: Er beschimpfte die Häftlinge als Dreckskerle und Untermenschen, die so viel Rücksichtnahme gar nicht verdient hätten.
»Wir sind viel zu gut für euch! Ihr an unserer Stelle hättet uns schon alle umgebracht!« Dem Kommandanten rannen Schweißtropfen über die Wangen. Mit einem Arm wischte er sich über die Stirn. »Aber in unserer Großzügigkeit haben wir dem Spektakel hier zugestimmt. Ich hoffe, ihr wisst das zu schätzen!« Tangermann nestelte nervös an dem breiten Gurt seiner schwarzen Uniform. »Solltet ihr aber andere Absichten verfolgen, kann ich euch nur warnen! Das Lager ist umstellt und bei dem geringsten Anlass eröffnen wir das Feuer. Guckste durch?« Er verengte die Augen und lächelte vielsagend.
Tangermann schaute sich noch einmal in der Menge um und schlurfte angestrengt zurück zu seinem Platz. Hier blieb er noch einmal kurz stehen und hob huldvoll die Hand, als würde er wie ein römischer Imperator die Spiele beginnen lassen.
Erschöpft setzte sich nun auch der Kommandant von Börgermoor auf seinen Platz neben dem Truppführer und dem Scharführer, in der Mitte der ersten Reihe. Sein Kopf, der die Form einer Kartoffel hatte, war rot angelaufen. Tangermann war es nicht gewohnt, vor so vielen Menschen zu sprechen, selbst wenn es in seinen Augen nur Untermenschen waren. –
Der Kommandant hatte nun das Zeichen gegeben: Die Vorstellung konnte beginnen! Sofort hob Richard den linken Arm.
»Moor-Eis! Moor-Eis! Zehn Pfennig die Portion! Frisch gestochen!«
Ein Kamerad, der als Clown verkleidet war, betrat die Manege und lief durch die Reihen. Er hatte sich einen Bauchladen umgebunden, der nur aus einem Brett bestand, und auf dem riesige Torfstücke zu sehen waren.
»Moor-Eis! Moor-Eis! Zehn Pfennig die Portion! Frisch gestochen! Moor-Eis! Nur zehn Pfennig!«
Das ganze Gesicht des Clowns war mit weißem Mehl geschminkt – bis auf die Nasenspitze, auf die etwas Jod aufgetragen war. Der Verkäufer trug einen überdimensionalen steifen Kragen aus Pappe, der nur notdürftig mit einigen Sicherheitsnadeln aus dem Lazarett zusammengehalten wurde. Auch die großen Manschetten an den Ärmeln bestanden aus Pappe, auf denen große, blanke Knöpfe zu sehen waren.
Wie ein richtiger Clown tapste er unbeholfen in seiner grünen Häftlings-Uniform und den Holzschuhen durch die Reihen. Ab und zu stolperte er zum Vergnügen des Publikums, hielt mit seinem Bauchladen aber stets die Balance.
»Hast du auch Bier dabei?« rief Zachel selbstgefällig.
Einige SS-Männer klopften sich belustigt auf die Schenkel.
Ohne darauf zu antworten pries der Clown weiter seine Waren an. »Moor-Eis! Moor-Eis! Zehn Pfennig die Portion! Frisch gestochen!«
Richard betrachtete die ganze Szene mit einem mulmigen Gefühl und gab den ersten Darstellern sein Zeichen. Die fünfköpfige Schrammelkapelle nahm hinter dem Vorhang Aufstellung. Als der Eisverkäufer die Manege verlassen hatte, spielten sie einen lauten Tusch und der Vorhang öffnete sich. Ein Mann zog die zusammengenähten Bettlaken beiseite und betrat froh gelaunt die Manege. Auf dem Kopf trug er einen riesigen Papp-Zylinder und in seiner Hand schwang er die Peitsche des Kommandanten. Seine Uniform war bis auf die Knie voll mit Orden besetzt: Runde, ausgeschnittene Pappstücke, auf denen jeweils das Wort "Orden" stand, waren mit Sicherheitsnadeln überall befestigt. Dazwischen gab es auch wertvolle "Orden am Bande", bestehend aus zusätzlichen Mullbinden, an denen blanke Knöpfe angebracht waren.
Der "Direktor Konzentrazani" gab sich hiermit die Ehre! Und im Publikum gab es einen verhaltenen Empfangs-Applaus. Noch waren sich die Häftlinge nicht im klaren darüber, was sie sich erlauben durften.
Der Zirkusdirektor lüftete den Zylinder und machte eine tiefe Verbeugung. »Meine sehr verehrten Moorbürger! Ich darf Sie herzlich willkommen heißen in dieser wunderschönen Urlaubsgegend. – Ich sehe, Sie haben sich alle fein herausgeputzt, um an dieser Gala-Vorstellung teilnehmen zu können. Unser Zirkus ist der größte seiner Art in Deutschland. Wir haben bereits in vielen anderen Metropolen große Erfolge gefeiert: In Esterwegen, Oranienburg und Dachau!«
Im Publikum waren die ersten Lacher zu hören. Befangen und zaghaft.
»Erfreuen Sie sich an den spektakulären Tier-Dressuren! Nur Esel haben wir nicht dabei, da haben wir hier ja genug davon!«
Die Kameraden schmunzelten, wagten aber nicht, laut zu lachen.
»Börsen-Hyänen und Finanz-Tiger fehlen ebenso!«
Einige Häftlinge schauten verstohlen zu den SS-Männern hinüber. War so etwas erlaubt? Durfte man sich über so etwas lustig machen?
Andere wurden schon ein wenig mutiger.
»Genau! Stimmt! Wo sind die eigentlich?«
»Ich will Ihnen nicht allzu viel von unserem Programm verraten«, fuhr der Direktor fort und setzte seinen Zylinder wieder auf den Kopf, »aber Sie werden staunen, staunen, staunen!«
"Zirkus Konzentrazani – Ein Roman gegen das Vergessen" von Udo Brückmann und Volker Hedemann, Geest-Verlag 2013, 375 Seiten, ISBN 978-86685-420-8, Verkaufspreis 14,80,- Euro
Presse-Artikel:
https://www.nwzonline.de/ammerland/kultur/kultur-als-form-des-widerstands_a_10,4,3166704897.html
https://www.nwzonline.de/kultur/weser-ems/roman-ueber-lager-boergermoor_a_10,4,3236644754.html
https://www.noz.de/lokales/nordhuemmling/artikel/429435/widerstand-mit-kultur-im-kz-borgermoor
Podcast:
http://www.emsvechtewelle.de/podcasts/der-roman-zirkus-konzentrazani-ist-erschienen-18835.html
Bericht, Lesung im Kulturhaus Babelsberg mit Tobias Langhoff, Oktober 2014
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